Das Totenmahl
Roman, Erzählungen
Kowalke & Co. Verlag, Berlin 1998
Sieben Geschichten über den Tod
Der wunderbare Selbstmörder
Es geschah an einem strahlenden Dezembertag auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings. Die Sicht war großartig, die Wolkenkratzer wie mit der Rasierklinge aus dem stahlblauen Himmel geschnitten, im Süden schlugen die beiden Türme des World Trade Centers Kerben in den Himmel, und im Nordosten glänzte die geschuppte Spitze des Chryslerbuildings in der Mittagssonne. Schaulustige belagerten die Münzfernrohre, um einen Blick auf Staten Island, Brooklyn, Queens oder die Bronx zu werfen. Selbst New Jersey jenseits des Hudson mit seinen angrenzenden Städten Newark, Elizabeth, Hackensack, Hoboken, dieser von der Industrie so verwüstete Landstrich lag verlockend im Sonnenlicht. Es war kalt. Atemfahnen wehten vor allen Mündern. Zwei Halbwüchsige unterhielten sich angeregt, während sie immer wieder versuchten, durch die Gitterstäbe dcr Umzäunung in die Tiefe zu schauen. Sie diskutierten über die Fallgeschwindigkeit des menschlichen Körpers, ob sie durch den Luftwiderstand begrenzt sei, und wenn ja, ob die Höhe des Gebäudes ausreichte, um ihn noch vor dem Aufprall die Maximalgeschwindigkeit erreichen zu lassen. Neben ihnen stand ein Mann mit geschlossenen Augen, der anscheinend die Wintersonne genoß, sich dann aber mit einer ruckartigen Körperdrehung der Umzäunung zuwandte, leichtfüßig die Eisenstreben hochkletterte und im Nu deren nach innen gebogene Spitzen überwand. Auf der anderen Seite verharrte er in der Hocke, knapp über den Köpfen der Menge, die, von seinem Kabinettstückchen überrascht, in einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen zurückwich und einen Halbkreis um den Kletterkünstler bildete. Während der Wind sein Haar zerzauste und sein Jackett bauschte, blickte er mit dieser unerschütterlichen Ruhe, die auch den Primaten im Zoo eigen ist, in die Menge. Allmählich wurden Rufe laut, er solle doch vernünftig sein und wieder auf die Plattform zurückkehren. Statt einer Antwort löste der Mann seine linke Hand vom Gitterstab, öffnete sein Jackett und bewegte die Schulter ruckartig hin und her, damit das Jackett von seinem Arm glitt. Er mußte sich nicht lange bemühen, der Wind riß es ihm vom Leib und wirbelte es durch die Luft wie einen Fetzen Papier. Noch waren die meisten davon überzeugt daß es sich um einen Scherz, wenn auch einen makabren, handelte; vielleicht war der Mann auch geisteskrank, das gab es ja öfter, daß jemand auf irgendeinen Turm kletterte und dann gar nicht mehr wußte warum; die Kälte würde ihn schon wieder zur Vernunft bringen. Jemand sagte etwas von einem arbeitslosen Artisten, der auf sich aufmerksam machen wolle, andere hielten ihn für einen Exhibitionisten. Daß es sich um einen Selbstmörder handeln könnte, schien ausgeschlossen, warum sollte er sich dann noch kurz vor seinem Tod seinerKrawatte entledigen und das Hemd aufknöpfen, was er mit in ihrer unerschütterlichen Ruhe provozierenden Bewegungen tat. Jemand griff nach seinem Fuß, erreichte aber nur, daß er demonstrativ seine Umklammerung lockerte. Jeden weiteren Versuch, ihn von dem abzuhalten, was er vorhatte, beantwortete er mit dem Kampfgeist eines verwundeten Tieres und fuhr unbeirrt in seinem makabren Striptease fort. Ganz so harmlos schien die Sache jetzt doch nicht mehr zu sein. Was ging in dem Mann vor? Er war offenkundig nicht ganz richtig im Kopf. Man mußte ihn vor sich selbst schützen. Jedes dem Wind übergebene Kleidungsstück schien ihn dem Tod näher zu bringen, bis am Ende das letzte Stück, das aus Fleisch und Blut gewebte, das, welches seine Seele kleidete, in die Tiefe stürzen würde. Ein Mann kämpfte sich durch die Menge: "Ich bin Pfarrer", rief er, "lassen Sie mich durch!" Als er den Halbkreis erreicht hatte, blickte er auf zu dem Wahnsinnigen, der soeben geschickt mit einer Hand die Schnalle seines Gürtels öffnete, preßte seine Handflächen gegeneinander und legte alle Inbrunst und Überzeugungskraft, deren er fähig war, in seine Worte: "Mein Sohn, überdenke noch einmal dein Vorhaben, oft glaubt man die Last nicht mehr zu ertragen, die Gott einem auf die Schultern lädt, man weiß keinen Ausweg mehr, und trotzdem ist das Leben lebenswert es ist uns von Gott geschenkt, und nur er darf es nehmen ..." Der Lebensmüde schenkte dem Pfarrer nicht einen Blick und ging weiterhin mit einer Gelassenheit zu Werke, die das Schlimmste befürchten ließ. "Schauen Sie doch um sich, die Sonne scheint, wie schön alles ist, wir sind alle Teil eines großen Ganzen, wir haben alle unsere Aufgabe zu erfüllen..." Die Bewegungen waren jetzt automatisch, unwillkürlich, als wären sie Teil eines unzählige Male durchgespielten Handlungsprogrammes und, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr zu stoppen. Und doch war die Art, wie er seine Schuhe abstreifte, die zwei schwarzen Steinen gleich in die Tiefe stürzten, von großer Eleganz. Als die Hose den Schuhen folgte, zuerst über die Köpfe der Schaulustigen gewirbelt und dann jäh in die Tiefe gerissen ließ der Pfarrer in einer Geste tiefster Hilflosigkeit den Kopf auf die Brust sinken, während seine Hände weiterhin krampfhaft die Stangen der Umzäunung umklammert hielten. Seine Haltung glich der eines Ausgepeitschten. In den Augen des jetzt nur noch spärlich Bekleideten lag ein Glanz, der nur von einer inneren Ekstase hervorgerufen sein konnte, und ein verklärtes Lächeln, das an einen Schiffbrüchigen denken ließ, der, nachdem er wochenlang auf einer Planke durchs Meer getrieben ist, zum ersten mal Land sieht, erleuchtete sein Gesicht. Als er das letzte Kleidungsstück abstreifte, ging ein Aufschrei durch die Menge, der Pfarrer fiel auf die Knie und schlug das Kreuzzeichen. Langsam lockerte der Splitternackte, den beseelten Blick unverwandt auf die erstarrte Menge gerichtet, den Griff, und als die Finger sich vom Gitter lösten und er, die Arme ausgestreckt wie ein Gekreuzigter, sich rücklings ins Bodenlose fallen ließ, schwebte ein großer schwarzer Vogel heran und stieß in dem Augenblick, in dem der vom leblos in die Tiefe Stürzenden bereits abgelöste, feingesponnene Seelenkörper in seinem Gefieder verschwand, einen klagenden Schrei aus.