Schukrut
Roman
Alano Verlag, Aachen 1994

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Ein Deutscher in Paris. Ein Zugereister PAPAPAPARIS auf Zeit mit Kochmöglichkeit, der eine persönliche Rechnung mit der Stadt und ihrem Mythos begleichen will und bei seinen Wanderungen durch DIE HEIMKEHR ihre Straßen Henry Miller als eine Art Kompass benutzt. Man könnte das Buch mit einem Kaleidoskop vergleichen: so wie 7 TAGE sich die bunten Glassplitter zu WIRKKEIT verschiedenen Mustern fügen, und jeder Splitter Teil aller Muster ist, so finden die Erfahrungs- und Erlebnissplitter des Autors Eingang in verschiedene literarische Gattungen, ein Journal (Papapaparis), eine Kurzgeschichte (Die Heimkehr), ein Tagebuch (7 Tage Wirkkeit), ein Theaterstück (Sekkudo), sowie zwei Drehbücher SEKKUDO (Hammada, La Defense, der Einzelkämpfer, und das Herauslachen der Verhaustierung), wobei die Tagebuchnotizen den Humus bilden, auf dem alles andere gedeiht. Durch sie kann der Leser einen Blick hinter die Kulissen werfen und ahnen, wie Erlebtes Eingang in Erzähltes findet, ohne Gefahr zu laufen, das Geheimnis des Buchs zu lüften und damit seine Seele zu zerstören. So disparat die einzelnen Kapitel auf den ersten Blick auch erscheinen STILLE mögen, so behandeln sie doch TAGE IN PARIS HAMMADA das gleiche Thema, den Kampf gegen das Untergehen in einer großen Stadt, oder anders formuliert, das Bemühen, dem ausgelaugten Pariser Körper neue Bilder abzugewinnen. Ein Bemühen ähnlich dem, aus Stein Brot zu schlagen. Nicht zuletzt ist das Buch eine Hornmage an die Großen Geister und Pataphysiker der zwanziger LA DEFENSE und dreißiger Jahre, DER EINZELKÄMPFER die in Paris Himmel UND DAS HERAUSLACHEN und Hölle erlebt haben DER VERHAUSTIERUNG und der Stadt wie einem Jungbrunnen oder einer Jauchegrube entstiegen sind.


Köln, Sylvester 1989

Meine erste Handlung in der fremden Wohnung sei, den sechzehnten, den ersten, den achtzehnten, den neunten sowie den neunzehnten Buchstaben des Alphabets in die Maschine zu tippen, nachdem ich mit meinem Gepäck dem Wagen entkommen, und mit der Schreibmaschine unter dem Arm auf den Tisch zugesteuert wäre, ohne mich vorher in der Wohnung umgesehen, den Geruch, das Mobiliar, die Stimmung, die Lichtverhältnisse der Räume wahrgenommen zu haben, ich nähme den Deckel ab, striche das schon in Köln eingespannte Blatt glatt, prüfte den Stuhl auf seine Festigkeit, als ob das bevorstehende Tippen einem Kräftemessen mit einem übermächtigen Gegner gleichkäme, und hämmerte die Stadt Buchstabe für Buchstabe aufs Papier: P a r i s.

7.6.90

Ich drücke den Summer der Haustür, steige die Treppe zum ersten Stock hoch, öffne die Wohnungstür, stelle die Schreibmaschine auf den Tisch, nehme den Deckel ab, - wo ist das Papier?! Kein Papier eingespannt. Kehre wieder zum Auto zurück, um Papier zu holen, haste mit einem flatternden Blatt durch den fremden Hausflur, spanne es ein und beginne mit der Beschwörung: PA.R.I.S. 5 Buchstaben, die Unterschrift unter einen Vertrag, den ich mit der Stadt für die nächsten zwei Monate geschlossen habe: sie zeigt mir, was sie zu bieten hat, und ich schreibe auf, was ich davon halte. Sie weiß, daß sie keine Lobeshymnen zu erwarten hat, und ich bin mir bewußt, daß ich vielleicht nur Beinkleider zu sehen bekomme.

Ich hätte das Farbband mit meinem Blut tränken sollen. Paris ist nicht mehr das, was es einmal war.

Paris war nie das, was es war. Paris ist Paris ist Paris ist Paris ist.

Paris ist eine Hure, in die du hineinstoßen kannst, bis du schwarz wirst, aber nie wirst du ihr einen Laut der Leidenschaft entlocken.

Paris ist Paris.

Paris, drei Buchstaben fehlen dir zum Paradies. Sie werden jedem Besucher ausgehändigt, wenn er dich durch eine deiner Türen betritt. Was er mit ihnen macht, ist seine Sache, er kann sie einfügen zu neuen Ufern, oder er läßt sie weg, A, D und E, Ade, Verabschiedung eines Mythos.

Das A, das D und das E wurden mir an der Tür von Clignancourt ausgehändigt, goldene Buchstaben, die metallen in der Hosentasche klimpern.

Paris. Wie oft habe ich die Augen geschlossen und die Buchstaben einzeln auf der Zunge zergehen lassen! Sofort meldet sich der Geschmack von Kaviar und Küssen, von Hummer und Kummer, Pastis und Paradies, Lachs und Liebe, Montparnasse und St. Germain. Die kräftigen Farben der 20er und 30er Jahre schäumen auf bis unter den Gaumen. Alles war in Bewegung, jeder ließ sich vom glitzernden Geschehen der Straße die Sinne aufpolieren, daß sie glänzten wie Lackschuhe.

Beckett. Daß er gerade jetzt hat sterben müssen! Kurz bevor ich ihn hätte treffen können, irgendwo in einer Metzgerei, eine Einkaufstasche in der Hand, in einen dunkelblauen Popelinmantel gekleidet, darunter eine Strickjacke, er läßt den Adlerblick über die verschiedenen Pasteten und Rollbraten gleiten, er kauft das, was seine Frau auf den Einkaufszettel geschrieben hat.

Für Pariser Verhältnisse hat das Zimmer eine durchschnittliche Größe: mit ausgestreckten Armen lassen sich die gegenüberliegenden Wände fast berühren. Zugereister, kommst du in diesen Raum, so vergesse die Machete nicht! Hast du dich endlich durch den Dschungel aus Ledercouch, Bettlandschaft, Schreibtisch, weiß lackiertem Kleiderschrank und Regalen gekämpft, so wirst du in der Mitte des Raumes eine Lichtung betreten, ein mehr als briefmarkengroßes Karee knarrenden, braunen Parketts, das für den Tanz auf der Stelle reserviert ist.

Ansonsten ist alles da, Kassettenrecorder, Radio, Fernseher. Das große Fenster verbreitet genügend Licht, die Enge zu erhellen. Über die belanglosen Ausschmückungen wie Poster, Topfpflanzen, teilweise in gläsernen Käfigchen gehegt, und den den Buchrücken vorgelagerten Nippes läßt sich hinwegsehen. Schräg gegenüber sitzen 4 kleine Negerlein in einem Hauseingang, jedes beißt in eine rote Melonensichel, deren Enden bis hinter die Ohren reichen. Das wichtigste an einer Wohnung ist der Blick aus dem Fenster. Er sollte möglichst auf eine belebte Straße gehen. Weil das Schreiben eine einsame Tätigkeit ist. Der Blick ist wichtiger als ein Bad oder ein Durchlauferhitzer. Wenn man Schriftsteller ist. Da geht der Blick immer von drinnen nach draußen. Die Rue du Póle Nord ist eine unscheinbare, wenig belebte Wohnstraße mit siebenstöckigen Backsteingebäuden aus den zwanziger Jahren, ein unbedeutender Teil im Puzzle der Metropole. Gebogen wie ein Bumerang, verbindet sie die Rue Montcalm (meine Ruhe, schöner Name) mit der Rue Championnet. Nur eine Autowerkstatt sorgt für etwas Aufregung. Nomen est Omen, sollte ich mich in der kältesten Straße einer ohnehin kalten Stadt einquartiert haben? Aber wenn jeden Tag die kleinen Negerlein im Hauseingang sitzen, will ich zufrieden sein.

"Paris, ein Fest fürs Leben", schrieb Hemingway. Verglichen mit anderen Schriftstellern lebte er ein wohlsituiertes, sorgenfreies Leben. Er verbrachte die Tage schreibend in den Cafes und wenn ihm manch guter Satz gelungen war, befiel ihn diese wohlige Zufriedenheit, die ein saftiges Steak in einem hungrigen Magen hervorruft.

"Es ist gut, mit der Frau, die man liebt, ins Bett zu gehen", schrieb er. Ein schöner Satz, herrlich in seiner Einfachheit.

Der Tag ist grau. Es liegt Regen in die Luft. Die Straße ist schmal. Der Himmel ist nur zu sehen, wenn man nah ans Fenster tritt.

Die Stille der Wohnung wird zudringlich. Die Wände geben mir meine Atemzüge zurück.

Ich bin Zugereister auf Zeit. Zugereister mit Kochmöglichkeit.