Sechs Blüten
Fotografie, Text, Gestaltung: Rolf Steiner
Siebdruck: Axel Bohlen
Mappe: Pineapple, Köln
Schrift: Euphemia Regula
Schreibmaschine: Olympia Traveller de Luxe
Papier: Munken Print cream 195g
Auflage: 21 + 4 Künstlerausgaben
Erscheinungsjahr 2010
copyright Rolf Steiner
Die Mappe enthält sechs Textblätter (30x42cm) sowie sechs Fotografien (30x42cm), auf die im Siebdruckverfahren ein mit Schreibmaschine geschriebener Text gedruckt ist. Da diese Texte nur schwer lesbar sind, sind sie noch einmal separat auf sechs Blättern mittels Siebdruck abgedruckt. Die Texte sind literarische Beschreibungen der jeweiligen Blüten.
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Eine kreisrunde Blüte mit einem Durchmesser von der Länge eines Zeigefingers liegt ohne Stiel (und wegen des gewölbten Blütenbodens ein wenig gekippt) auf einem weißen Blatt Papier. Die vielen, in sich gewellten, zarten und vermutlich wächsernen Blütenblätter, in ihrem Gelborange an einen Pfifferling und in ihrer Form an eine Jacobsmuschel erinnernd, sind in mehreren Ringen um einen dunklen Büschel aus Staubgefäßen angeordnet, dabei gegeneinander versetzt wie die Sesselreihen in einem Kino. Von einem seitlichen Licht angestrahlt, wirft die Blüte einen langen Schatten, der an einen Teufelskopf erinnert, einen Teufelskopf, der im Begriff ist, sich abzuwenden.
Auf einem weißen Blatt Papier liegt ein kugelförmiges weißliches Gespinst, das, durchscheinend wie das Haar einer alten Frau und von einem seitlichen Licht angestrahlt, einen wolkigen Schatten wirft, wobei Gespinst und Schatten fast unmerklich ineinander übergehen. Im Zentrum befindet sich ein schwärzlicher Knoten, in dem zahllose, länglich geformte Samenkörner locker stecken, um sich mit ihrem sogenannten ‚Fallschirm’, einem Wedel aus mehr als haarfeinen Fäden, vom erstbesten Wind davon tragen zu lassen, darunter einige, die bereits losgerissen sind, sich aber gleich darauf kopfüber im weißlichen Kugelgespinst verfangen haben. In das Gesicht eines Kindes gepustet, geht die Saat in Lachen auf.
Auf einem weißen Blatt Papier liegt eine Blütendolde, in mehrere Rispen verzweigt, die mit vielen kleinen Blüten besetzt sind, so fein und zart, als seien sie das Werk einer Spitzenklöpplerin. Ihre elfenbeinerne Farbe sowie das fahle Licht, mit dem die Dolde seitlich angestrahlt wird, des weiteren der blasse Schatten und die ein wenig ermatteten, zur Seite geneigten und die Stängel freigebenden Rispen, erwecken das Vorstellungsbild eines aufgebahrten, nackten, menschlichen Körpers, der, statt mit einem aus Leinen gewebten, mit einem aus eben diesen Blüten geklöppelten Totenhemd bedeckt ist.
Die faustgroße, kugelförmige, violette Blütendolde scheint, statt auf dem weißen Blatt aufzuliegen, über ihm zu schweben. Doch der Eindruck täuscht, der vom seitlich einfallenden Licht hervorgerufene, unverhältnismäßig große Schatten bringt es an den Tag: Weder schwebt die Blüte, noch liegt sie auf, vielmehr befindet sich unter ihr und von ihr verdeckt ein vermutlich der Blüte fremder Gegenstand, ein ‚Abstandhalter’. Wie dem auch sei, das scheinbare Schweben verleiht der Blütendolde eine geheimnisvolle Aura, man möchte sie ergreifen, sie mit Wasser benetzen, mit Bedacht zuerst die Stirn betupfen, dann die linke sowie die rechte Handwurzel, danach die Strecke vom Halsansatz bis zum Ende des Brustbeins bestreichen, und zum Schluss ein Ausrufezeichen setzen, indem man den Blütenschwamm, der inzwischen einen großen Teil seiner Feuchtigkeit abgegeben hätte, auf den Nabel herabsenkt und dort eine Weile ruhen lässt.
Rot sticht sie ins Auge, diese bald handtellergroße Blüte, aus zwei größeren und zwei kleineren Blütenblättern gebildet, welche sich um einen längs gefurchten, aus einer dunklen Vertiefung ragenden und spitz zulaufenden Fruchtstempel gruppieren. Küssen möcht’ man die leicht zerknitterten pergamentenen Blätter, die, von einem seitlich einfallenden Licht angestrahlt, einen kurzen Schatten werfen, der nur ein Halbrund wäre, wellte sich nicht der Rand eines Blütenblatts nach oben und bewirkte dadurch eine Ausbuchtung des Schattens. Ja, küssen möcht’ man dieses Rot, dass es sich auf die Lippen lege wie Blattgold.
Auf einem weißen Blatt Papier liegt eine Blüte, die irgendwie, man weiß nicht wie, an ein Tier erinnert, eine Blüte, die sich möglicherweise als Insekt tarnt. Das Blüteninsekt scheint in Habacht-Stellung begriffen (dieser Eindruck mag dem die Blütenblätter verdoppelnden Schatten geschuldet sein), die kleineren, eingebuchteten, kreisförmig um das Auge des Fruchtknotens angeordneten Blütenblätter wachsam (angriffslustig?) aufgerichtet, bereit, jeden Moment mit seinen roséfarbenen, länglich ovalen, feingeäderten und den ihm vom seitlich einfallenden Licht dazu verliehenen Schatten-Blütenblättern davon zukrabbeln. Darüber hinaus (wieder weiß man nicht weshalb, vielleicht wegen seines zarten und zerzausten Anblicks) erweckt es das folgende Vorstellungsbild: Am Straßenrand steht ein kleines Mädchen mit blasser durchscheinender Haut, das Haar von roséfarbenen Bändern durchwirkt. Es hat die Augen geschlossen. Weit und breit kein Mensch und kein Haus. Die sich durch eine flache karge Landschaft windende Straße liegt verlassen unter einem weiten Himmel. Gleich wird das Mädchen die Arme seitlich vom Körper heben, ein Wind wird kommen und es davontragen.